Von Tobias Richtsteig:              “Ich treffe Anfang Oktober im Kaffeestübchen der Hamburger Fabrik, auf der Bühne wird gerade noch der Flügel gestimmt. Gleich wird das Leon Gurvitch Jazz Project mit Stargast Frank London die Jazztage Hamburg 2008 eröffnen. Vor ziemlich genau einem Jahr stand Wolfgang Schlüter mit seinem Quartett auf dieser Festival-Bühne. Jetzt liegt das bemerkenswerte Konzert auf CD vor. Das Album erscheint gerade rechtzeitig zu seinem 75. Geburtstag und ist doch viel mehr als nur ein Jubiläumsgeschenk für den Altmeister des Vibraphons. Man könnte es auch als Debüt des aktuellen Quartetts sehen, denn Wolfgang Schlüter denkt noch lange nicht daran, aufzuhören.Abends halb neun bis nachts um halb vierSeine Sidemen hat er in der jungen Jazzszene der Hansestadt gefunden, sie könnten seine Enkel sein. Doch den Altersunterschied kann man nicht hören. »Sie könnten ja auch sagen: ›Ach, den alten Zausel, lass den doch mal da vorne stehn und spielen‹, oder was«, meint Schlüter. »Nein: Sie mögen, dass wir zusammenfinden und eine Einheit bilden – das ist es. Eine Gruppe muss eine Einheit bilden. Dann passiert auch was.« Wenn Wolfgang Schlüter die Basics des Jazz als gemeinsam improvisierte Musik darlegt, dann spricht aus ihm die Erfahrung von über 55 Jahren auf der Szene, als Solist mit Bigbands, als Sideman für Rolf und Joachim Kühn, aber auch Volker Kriegel und Christoph Spendel, Peter Giger, John Taylor, nicht zuletzt auch in Jazz&Lyrik-Projekten mit Peter Rühmkorf und immer wieder Michael Naura.Der Pianist Naura, so betont Schlüter noch einmal, als das Mikrofon längst weggepackt ist, hat ihn überhaupt zum Jazz gebracht. Im Berlin der 1950er Jahre hatten sie sich als Studenten kennen gelernt. Schlüter studierte an der Hochschule als klassischer Schlagzeuger auch die so genannten Mallet-Instrumente wie Marimbaphon, und interessierte sich privat auch für den Jazz. Um Geld zu verdienen, nahm er erste Jobs als Vibraphonist an, zunächst in einem Quintett, das ein Berliner Akkordeonist nach dem Vorbild des Lounge-Swingers Art van Damme gegründet hatte. Bis dahin hatte Schlüter nur privat auf dem Klavier improvisiert: »Und da fragt der mich, ob ich nicht Lust hätte, mal Vibraphon zu spielen. Einen guten Job in den Zoo-Festsälen, da gab es jeden Tag 25 D-Mark West. Das waren für mich 125 Mark Ost. Da hab ich gesagt: Scheißegal, das mach ich, egal, was dabei rauskommt.«Der Erfolg dieser ersten Begegnung mit dem Vibraphon sprach sich herum, und als 1953 Michael Naura sein Swedish Quintett nach dem Vorbild George Shearings mit Klavier, Gitarre und Vibraphon besetzte, war Schlüter die erste Wahl. Doch erstmal stand eine Berufslaufbahn als Orchestermusiker auf dem Lebensplan des studierten Schlagwerkers. Als der irische Rundfunk für sein Dubliner Sinfonieorchester in Berlin zum Probespielen einlud, konnte Schlüter überzeugen und erhielt einen Vertrag, den er zum 1. Januar 1956 antreten sollte. Bis dahin blieb noch ein halbes Jahr zu überbrücken, schließlich half der Musiker auch noch, seine Mutter und den jüngeren Bruder in Ostberlin zu ernähren. Alle Jobs mit dem Swedish Quintet waren gespielt, und so ging Schlüter nach Westdeutschland, um dort mit einer holländischen Swingband Geld zu verdienen. »Da lernte ich die ganzen Jazzleute kennen, Heinz Koller, Emil und Albert Mangelsdorff – die ganze Clique, praktisch die Crème der deutschen Jazzszene, und wir spielten Jazz zusammen und Sessions«, erzählt Schlüter. »Da hab ich so viel Blut geleckt, dass ich gesagt hab: ›Was will ich eigentlich in Dublin?‹ Und da hab ich den Vertrag zurückgeschickt.«JazzbazillusDass Michael Naura zu dem Zeitpunkt gerade ein zweites Quintett zusammenstellte, das von 1956 höchst erfolgreich war, traf sich gut; zunächst im Hamburger Jazzkeller Barrett, später auch mit Schallplatten-Einspielungen und auf Tourneen. »Wir spielten ja damals – man darf das nicht vergessen – von abends halb neun bis nachts um halb vier. Und das mit zwei freien Tagen im Monat!« Diese bergwerksähnlichen Arbeitsbedingungen forderten 1963 ihren Tribut. Schwer krank ging Bandleader Naura für ein Jahr ins Krankenhaus, das Quintett löste sich auf.Doch inzwischen war Wolfgang Schlüter als hochvirtuoser Solist bekannt und schon bald reiste er von Gastspiel zu Gastspiel bei den Bigbands von Erwin Lehn, Kurt Edelhagen, Paul Kuhn und vielen anderen. Als Franz Thon damit begann, das Tanz- und Unterhaltungsorchester des NDR zur »Studioband« mit deutlicher Jazzausrichtung umzubauen, und Solisten suchte, unterschrieb Wolfgang Schlüter einen öffentlich-rechtlichen Vertrag. Er blieb 30 Jahre bei dem Ensemble, das schon bald NDR Bigband genannt wurde, und trat hier mit Kollegen wie Herb Geller und Hans Last an der Seite von Gaststars wie Joe Pass und Chet Baker auf. Hätte es ihn nicht gereizt, selbst nach Amerika zu gehen? »Wenn ich für mich alleine hätte entscheiden können, dann hätte ich das vielleicht gemacht«, meint Wolfgang Schlüter, »aber ich war schon verheiratet, und das war mir zu unsicher in Amerika. Das wollte ich meiner Frau nicht zumuten. Und ich hatte ja gute Möglichkeiten, hier zu spielen, am Rundfunk und überall – warum sollte ich mich dieser Sache aussetzen?« 1971 kam Michael Naura zu einer Festanstellung in der Jazzredaktion des NDR, und fortan konnten die beiden Freunde von Hamburg aus in Duos, Trios, Quartetten – und wiederum auch mit dem Lyriker Peter Rühmkorf – immer wieder neuen Jazz erfinden: »Einfach nur meinen Dienst in der Bigband zu verrichten, das reichte mir nicht. Ich habe jede Gelegenheit wahrgenommen, Jazz zu spielen. Wer einmal richtig vom Jazzbazillus beleckt wurde, der ist süchtig!«Nur wenige dieser Projekte wurden allerdings unter Schlüters eigenem Namen aufgenommen. »Naja, die Sache war die: Ich habe kein besonderes Organisationstalent«, lacht Schlüter. 1985 rief er dann doch ein Quintett zusammen: »Die Swingmusik war da sehr ins Hintertreffen geraten. Die spielte damals keiner, weil sie eben technische Anforderungen stellte. Ich hab gesagt: Warum eigentlich? – und die Swing Revival gegründet, mit dem Stefan von Dobrzynski (sax, clar), Horst Mühlbradt (p), Charlie Antolini (dr) und Lucas Lindholm (b). Und das war ein voller Erfolg! Wir haben ja auch den Schallplattenpreis bekommen. Und das ging eine Zeit, denn – ich hab das ja immer nur als eine meiner Sachen gemacht. Das sollte ja nicht die Hauptsache sein, nur ein Teil!« Genauso wie das Trio mit Simon Nabatov (p) und Charlie Antolini, das 1996 auf den Spuren von Lionel Hampton, Art Tatum und Buddy Rich eine Platte für ACT aufnahm. Oder das Hamburg Quintett mit Valdyslav Sendecki (p), das eine wunderbare Weihnachtsplatte einspielte.SwingSchließlich war Schlüter auch seit 1983 Professor an der Hochschule Hamburg, wo er unter anderem die Kurse für Ensemblespiel leitete. Dort brachte er der jungen Generation den Swing bei – aber nicht als musikhistorisches Genre. »Nein, nein. Das ist es: dieser Motor, dieser Drive. Es gibt Leute, die swingen nicht. Da kann man machen, was man will. Und mache, die swingen eben – da geht es eben los! Und für mich war also gerade in den letzten Jahren der Wunsch – gerade mit jungen Leuten -, das wieder nachzuvollziehen: dass der Jazz nicht nur kopflastig ist, sondern dass er eine sehr lebendige und aus dem Moment entstehende Musik ist. Und das ist ja das Schöne! Man weiß nie, was passiert – das kann auch in die Hose gehn, ist klar. Aber oft ist es so, dass man dann motiviert wird, vor allen Dingen, wenn man mit Musikern zusammenspielt, mit denen man sich versteht. Nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich. Das greift ineinander. Und dann, ja, dann kommt’s zum Brodeln.« Ein Credo, das Wolfgang Schlüter seit fünf Jahrzehnten praktisch lebt. Wohl auch deshalb wurde er 2001 mit dem Albert-Mangelsdorff-Preis ausgezeichnet.Die jungen Musiker im aktuellen Wolfgang Schlüter Quartet jedenfalls haben ihre Lektionen in Swing als Urkraft jeder Art von Jazzmusik bei Professor Schlüter gelernt. Sie gehören zu den interessantesten Namen der jungen Szene, nicht nur in Hamburg. Bassist Philipp Steen geht genauso mit Pop-Acts wie Torsten Goods und Milla Kay wie mit dem Free-Doppeltrio Eisenrot oder dem Hammerklavier Trio auf Tournee, das er mit seinen Kollegen Boris Netsvetaev und Schlagzeuger Kai Bussenius abseits der Auftritte mit Schlüter bildet. Ihre eigene CD, die im Frühjahr erschien, zielt irgendwo zwischen Monk und Bad Plus – und trifft. Diese Spannkraft überträgt sich auf die Musik des Wolfgang Schlüter Quartet. Die Kompositionen von Milt Jackson, Richard Rodgers, Gigi Gryce mögen aus einer längst vergangenen Ära stammen – doch wie Schlüter, Stehen, Netsvetaev und Bussenius die alten Formen heute als Einladung zum gemeinsamen Swingen bzw. Brodeln verstehen, ist es absolut zeitgenössischer Jazz.Die Gleichung »Swing = Mainstream = langweilig« ist wohl ebenso ein Missverständnis, wie Wolfgang Schlüter den »deutschen Gary Burton« zu nennen; der gebürtige Berliner sieht sich anders: »Juut, ich hab sehr viel mit vier Schlägeln gespielt. Aber ich empfand das nachher nicht als unbedingt wichtig. Für mich war viel wichtiger, erdbetont zu spielen, also mehr perkussiv, und das ist mit vier Schlägeln nicht so gut, das wird immer ein bisschen mehr Klavierspielen auf’m Vibraphon. Und das Vibraphon ist nun mal ein Perkussions-Instrument!«